Ein angelsächsisches Konzept

 

Einsamkeit ist ein angelsächsisches Konzept. Wenn du in Mexiko City die einzige
im Bus bist und jemand einsteigt, dann wird er sich nicht nur neben dich setzen,
er wird sich an dich anlehnen.
— Lucia Berlin, Albern, wer da weint

Der Fahrer blickt aus der Dunkelheit heraus — es gibt keine Haltestellen. Es gibt nur Handzeichen, die Türen stehen immer offen. Seine Sinne täuschen ihn manchmal, er beugt sich zum Lenkrad, sein schwerer Körper vor dem Fenster. Seine Augen glänzen. Sein Bus steht an der roten Ampel. Diese kleinen Busse sind winzig und riesig, im Rasen wanken sie. Behäbige Dampfer. Und die Fahrer sind immer in Eile, sie müssen fünf Millionen durch die Stadt bringen. Unten Asphalt. Oben die Bäume. Gummibäume, und Stromkabel wie langwieriges Haar. Ein Lenkrad wie ein Lastwagen. Richtung Osten. Richtung Westen. Fünf Millionen Handzeichen. Aber heute ist sein Bus noch leer. Mit glänzenden Augen sucht er den Straßenrand ab.

*

Der Bus steht vor ihm an der roten Ampel. Die Luft war noch frisch. Es wurde eben hell. Vier Pesos, ertastet in der Jackentasche. Er sieht sich um. Direkt vor ihm. Die Luft frisch. Er sieht sich nochmal um. Nur einen Schritt. Warum nicht. Hineinspringen in diese Tür, die sich, immer offen niemals schließen wird, die niemals hält. Es gibt keine Haltestellen, nur Handzeichen. Vier Pesos in der Tasche, ertastet.
In der Jackentasche hält seine Faust an den Münzen fest. Die Luft ist frisch, er atmet tief, füllt seine Lungen mit Vergewisserungen. Es ist nicht mehr Nacht, sagt er sich, die Nacht ist vorbei. Helle Musik von der Tanke. Er klimpert die vier Pesos. Er sieht sich um. Die Tanke ist leer. Das Victoria schon voll. Es duften die Donas nach süßer Erlösung. Schnell. Nur einen Schritt, denkt er. Auf und davon. Für vier Pesos den Boden unter den Füßen verlieren. Für vier Pesos alles hinter mir lassen. Der Motor jault auf. Seine Hand bewegt sich auf den bittersüßen Espresso zu, der vor ihm auf der wackeligen Holzbox hin und her kippt, als würden seine Finger blinzeln und neugierig die Welt erkunden, die Luft noch frisch, es ist bald hell, er richtet sich auf, eine reckende Bewegung als wäre er in einem kleinen Rausch und Wirbel, als wären Leben und Tod eins. Jetzt nicht so lange nachdenken, sagt er sich, die Nacht ist vorbei, ein Schritt aufs Trittbrett, den schmutzigen Wind im Haar, dem Fahrer gewunken, der wusste, vier Pesos in der Jacke. Für vier Pesos auf und davon, ein guter Deal, der Fahrer nickt. Er wird Gas geben, einen Gang hochschalten und die Musik aufdrehen, Cantina und los, nach Osten, nach Westen, den Fahrtwind um die Ohren. Die Türen stehen immer offen und weil die Türen immer offenstehen und fünf Millionen einsteigen und fünf Millionen aussteigen klappert immer irgendwo etwas. Eine Tür, ein Fenster oder sonstwas. Der Fahrer dreht sich in der Kurve zurück in den schlingernden Bus und schaut, weil etwas klappert oder sonstwas und sieht ganz hinten zusammengekauert eine Gestalt sitzen, nach Osten, nach Westen, im Dunkel seiner Gedanken sieht er eine Gestalt verschluckt von Osten, von Westen, der Fahrer nickt nach rechts, nach links, er tritt aufs Gaspedal nach Westen, nach Osten. Es donnern Taxis, Trucks und Pickups nach Westen, nach Osten.

*

Im ersten Sonnenstrahl rasen die Taxis, Trucks und Pickups von Osten nach Westen, Westen nach Osten. Sie dreht den Kopf nach links, nach rechts und in alle Richtungen. In der Ferne stehen am Straßencafé Victoria Frühaufsteher an der Theke. Mühelos bewegen sie sich nacheinander, nebeneinander, aneinander. Sie hat bald ihren Platz zwischen ihnen gefunden. Sie lassen sich auf hölzernen Bänken nieder. Sie stellen mit geübter Handbewegung riesige Becher mit Cappuccino und heißer Schokolade auf wackelige Holzboxen. Bittersüßer Espresso. Unter einem Flachbildfernseher, unter Nachrichtenbildern sitzen sie nacheinander, nebeneinander, aneinander. Straßenstaub. Zucker. Stimmen. Rufe. Schaum. Sonne. Zimt bestreute Donas, Fleisch gefüllte Tortas. Müsste ich nicht—

Hätte ich nicht längst —? denkt sie. Aber links. Die Art, wie er den Becher hielt. Ihr sind die Hände des Mannes links von ihr ins Auge gefallen. Sie findet nicht seine Hände schön, sein Haar. Es war die Art, wie er sein Leben hielt. Sechs Spuren Sonne trugen sich zu Wänden aus Licht, Verblendung, Erleuchtung zusammen. Es war ein Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Als hätte sie den Anfang versäumt und trotzdem gewusst, worum es ging.

Es waren nicht seine Hände, nicht der Wind in seinem Haar. Es war die Art wie er sein Leben hielt. Wie sie ihr Leben sah. Es war die Art, wie er sein Leben hielt, als sie ihr Leben sah. Jetzt den Kopf zur Seite neigen, denkt sie. Meine Schulter, eine Schulter. Zwei Augen auf sechs Fahrspuren. Meine Schulter, seine Schulter. Ein einziges Gleichgewicht. Balance. Etwas Weiches. Von Osten, die Sonne. Ein Herzschlag wie die rasenden Autos. Drei Spuren nach Westen. Still! Als wäre es das letzte Bild. Drei nach Osten. Windhauch. Herzschlag. Stromkabel wie silbriges Haar. Der erste Sonnenstrahl. Gesenkte Lieder. Ihre plötzliche Balance bringt sie ein wenig aus dem Gleichgewicht. Aber es gab gar kein Gewicht. Alles schien ohne Hindernis und ohne Zeit.

Zum ersten Mal im Leben wollte sie nichts riskieren. Sie hatte sich niedergesetzt und die Tür weit offen gelassen. Die Tür, durch die sie diese Szene betreten hat. Er blickt auf. Sechs Spuren Sonne, seine Hand hebt sich gegen das Blenden, vielleicht auch seine Stimmung. Etwas hat sich vage verdeutlicht, eine Veränderung in der Bewegung, in der Luft.

Die Regenzeit hat früher als gewöhnlich ausgesetzt. Wo sich normalerweise abends Regenmassen in braunen Bächen über die Straße ausschütten, wirbeln heute morgen Automassen trockenen Staub auf.
Zwischen dem Dämmern ihrer gesenkten Augenlieder und dem Sonnengleißen hat sie für einen Moment das Gleichgewicht verloren, aber beinahe gleichzeitig auch wieder vergessen, dass sie aus der Balance geraten war. Sie hat etwas anderes gesehen.
Einen Windhauch, der haften blieb. Als wäre er ein einfacher Passant gewesen und als wäre ein Teil von ihr aufgestanden, um aus irgendeinem Grund mit versteinertem Lächeln auf den Lippen die Tür zu schließen.
Er hatte den Kopf etwas zur Seite gewandt, als wäre sie zu spät gekommen. Und als auch sie sich zu ihm umschaute, als hätten sie beide den Anfang versäumt, war er verschwunden, gerade als wäre er – wie ein einfacher Passant –
Er muss in die offene Türe eines vorbeifahrenden Busses gesprungen sein. Der Bus wird wie das Leben ganz plötzlich auf ihn zugekommen sein. En passant.
Überreste eines Fiebers, eine innere Regung die bis aufs Äußerste prickelnd erfüllt. Ein verwaister Espressobecher, ein letztes Bild, das niemals hält. Es war früh am Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Die Stromkabel glänzen wie silbriges Haar.

*

Stromkabel wie langwieriges Haar. Mit glänzenden Augen tastet er den Straßenrand ab. Seine Augen gleiten über die Fahrbahn, den Rückspiegel. Fast dreihundertsechzig Grad behält er im Blick, nach links, nach rechts. Alle Richtungen bewegen sich rund um ihn wie ein wogender Ozean, ein ganzes Leben, das vor ihm liegt und das er rasend hinter sich lässt. Seine Augen tasten flink und geübt die bewegten Konturen in seinem Sichtfeld ab, wie sie hasten, zu zweit schlendern, laufende Kinder mit Schulrucksäcken und weil sein Überleben davon abhängt, sie zwischen den Autos und Häusern und Bäumen herauszufiltern, vergisst er alle einzelnen Formen sofort wieder. Er sieht Millionen und wenn keiner die Hand hebt, keiner aufspringt, keiner mit den unverkennbar zielgerichteten Schritten auf ihn zuläuft, allein oder in Zweier- oder Dreiergruppen auf ihn zuläuft mit Gepäck und Gesicht, dann vergisst er sie sofort wieder. Ein laufender Schritt, ein Anlauf eher, der sich mit deutlich abzeichnender Erleichterung im Gesicht verlangsamt, sobald die Laufenden eine der winzigen Gesten von ihm wahrgenommen haben: sein minimalistisches Repertoire, das er sich über die Jahre aufgebaut, und dann auf ein Mindestmaß abgeschliffen hat, das Nicken hat er auf einen Bruchteil reduziert, das Winken heruntergefahren auf ein deutliches Luftholen mit seinem ganzen runden Körper, ein Nachvornelehnen, wenn er den Gang schaltet und mit einem mittlerem Donnern herunterbremst. Und jetzt steht er mit laufendem Motor an der roten Ampel und lehnt sich zurück. Manchmal täuschen ihn seine Sinne, das weiß er. Deshalb beugt er sich also doch wieder zum Lenkrad vor, eine kleine Bewegung. Sein Blick streift kurz den Rückspiegel und zieht dann langsam nach rechts hinüber zum Straßenrand und fällt dabei auch auf das Café Victoria.

 

Lina Leonore Morawetz

 

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