Nach dreißig Jahren
Margret legt die Hand auf die sonnenwarme Fensterbank. Einen Moment lässt sie sie ruhen, wie auf dem Rücken einer Katze. Sie hat nie ein Haustier besessen, der Vermieter erlaubte keine, sie hat das immer bedauert. Heute ist sie erleichtert darüber.
Früher stand Margret oft hier am Fenster des Wohnzimmers. Blickte nach unten auf den Spielplatz. Halb von der Gardine verborgen sah sie den Kindern der anderen Hausbewohner zu, wie sie schaukelten und rutschten. Nur kurz, damit sie Margret nicht bemerkten und sie ihre Unbefangenheit beim Spiel behielten.
Früher glaubte sie, keine eigenen Kinder zu haben, wäre das größte Unglück in ihrem Leben. Da hatte Kurt sie noch nicht verlassen. Sie ihren Job gehabt. Glaubte noch an das Gute im Menschen und dass sich im Leben alles fügen würde.
Sie blinzelt gegen die Sonne, die durch die blanke Scheibe fällt. Schweiß tritt ihr aus. Die Wintersonne bündelt ihre Kraft. Die täuscht. Die Temperatur draußen beträgt vier Grad unter Null.
Unter dem Wintermantel trägt Margret drei Pullover übereinander. Zwei weitere hat sie eingepackt, den Rest verschenkt. Viel kann sie ohnehin nicht mitnehmen.
Dreißig Jahre hat sie in dieser Wohnung gelebt. Erst mit Kurt, später allein. Sie befolgte immer sämtliche Hausregeln, sogar die unsinnigen, putzte den Flur, wenn sie an der Reihe war. Entsorgte den Müll ordentlich, und mit der Miete war sie auch nie in Rückstand.
Sie hat niemandem erzählt, dass das heute ihr letzter Tag hier ist. Nicht mal den besten Freunden. Vor allem denen nicht.
Erst kam die Mieterhöhung. Dann die Kündigung, wegen Verkaufs. Der Vermieter sagte, jeder müsse schauen, wo er bleibt. Er wird eine Menge Geld bekommen für die Wohnung, Altbau, in einer neuerdings beliebten Gegend.
Wenigstens lässt ihr der Vermieter diese halbe Stunde. Zum Abschiednehmen. Sie solle einfach zuziehen und ihm die Schlüssel bringen, er habe sowieso noch nebenan zu tun und schließe dann später ab.
Ihr Nachbar ist vor ein paar Monaten gestorben, dessen Wohnung gehört auch dem Vermieter.
Noch ein letzter Blick. Auf den Spielplatz, die Sträucher dahinter, die im Sommer blühten, die Bänke, wo die Mütter und manchmal auch Väter saßen und erzählten. Die beiden Kastanien, den Rosenbusch, von dem sie manchmal heimlich eine Blüte abschnitt, in eine Vase stellte und jeden Tag mehrmals daran roch, bis die Blätter welk auf den Küchentisch fielen.
Margret kehrt dem Fenster den Rücken. Zieht den Rucksack auf und greift nach der Tasche neben sich. Die macht sich schwer, als wolle sie auch bleiben.
Geht nicht, flüstert Margret in die Stille. In die Leere. Der Wohnung und in ihr drin.
Ihre Schritte hallen auf dem Parkett, das sie regelmäßig pflegte. Sie mochte es, wenn es glänzte und nach Politur roch. Die Abnutzung sieht man dem Boden dennoch an. Die Jahre, die vergangen sind. Er ist wie ein Spiegel ihrer selbst.
Margret schließt die Tür und hat für einen Moment das Gefühl zu fallen. Sie atmet in den Bauch. Bis der Schwindel nachlässt.
Sie klopft an die Nachbartür, wie vereinbart. Bevor der Vermieter öffnen kann, legt sie die Schlüssel auf den Boden, steigt die Treppe nach unten. Schweiß läuft ihr über die Stirn.
Zum letzten Mal öffnet sie die Haustür. Schließt sie leise hinter sich.
Draußen schwappt ihr ein Schwall kalte Luft ins Gesicht. Sie tastet in die Innentasche ihres Mantels. Dort stecken ihr Pass und das Geld, das sie für die Möbel bekam. Viel weniger, als sie wert waren.
Hastig setzt Margret sich in Bewegung. Der Wind schneidet durch die Straßenschluchten, über ihr Gesicht. Sie geht bis zur Kreuzung, überquert sie. Passiert den Dönerladen, wo ihr der nette Angestellte zuwinkt. Sie denkt an die Wohnung, leer und doch so voll von Erinnerungen und Gefühlen, die sie besser auch zurücklässt.
Der Schmerz nährt sich nur davon.
Die Sonne steht tief. Margret wird sich bald einen Schlafplatz suchen müssen.
Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie in der Kälte überleben soll. Sie weiß, dass es Einrichtungen gibt. Für Leute wie sie. Sie hätte sich kümmern müssen.
Bis zuletzt hat sie geglaubt, dann gehofft, dass sie doch bleiben kann.
Wie unsäglich dumm.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob sie sich das letzte bisschen Stolz erlauben kann.
Das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs taucht vor ihr auf. Es steht einen Spalt offen, wie eine Einladung. Margret geht hinein.
Die Sonne verglüht schon, gießt orangefarbenes Licht über die Grabreihen. Sie war lange nicht mehr hier, zuletzt an der Beerdigung einer Freundin.
Eingerahmt von Eichen, lässt sie sich auf einer Bank nieder. In diesem Teil des Friedhofs liegen die Kleinsten, die Totgeborenen. Die Sternenkinder.
Sie holt Decken und den Schlafsack aus dem Rucksack. Wickelt sich darin ein. Die Kälte frisst sich dennoch durch die Stoffschichten, bis auf ihre Haut. Wie Säure.
Sie betrachtet den Grabstein vor ihr, wie sich seine Farbe verdunkelt, bis sie die Inschrift nicht mehr lesen kann.
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