Schwestern
Wind kommt auf. Ich spüre die Steine unter den Sohlen, das Salz auf meinen Lippen. Das Licht bricht sich in den Kristallen und verbrennt meine Lippen, bis sie kleine Bläschen bilden. Doch das ist später. Jetzt schmecke ich noch das Salz und fühle den Wind, die Erde unter den Füßen. Der Weg ist eng und ich muss ausweichen, als wir von einer Gruppe Wandertouristen überholt werden. „Amis“, sagt Jasna und ich nicke, was sie nicht sehen kann. „Michigan“, sage ich und denke, dass ich noch nie in den USA war. Ich schaue an mir herunter, auf meine Tchibo-Sporthose und die Meindl-Wanderschuhe. Dann hefte ich den Blick wieder auf den Rücken der Schwester. Sicher setzt sie einen Fuß vor den anderen. Ihr Schritt ist zügig und ich muss mir Mühe geben mitzuhalten.
„Alles okay da hinten?“
„Alles okay.“
„Komm, wir machen eine Pause.“
„Nicht nötig.“
Sie muss sich nicht umdrehen, damit ich ihre Zweifel im Gesicht sehen kann, die hochgezogenen Augenbrauen, die gerunzelte Stirn. Sie ist die Sportliche von uns beiden, egal wie viele Kilometer ich joggen gehe und wie viele Kilos ich abends nach der Arbeit im Gym stemme. Jasna läuft vorneweg und ich laufe hinterher. Ihre Füße finden ohne Zögern den nächsten Stein und ich setze meinen Fuß auf genau dieselbe Stelle. Manchmal gehe ich extra einen schwierigeren Weg, um nicht in ihre Fußstapfen zu treten. Doch meist wirft mich das dann ein paar Meter nach hinten und Jasna muss auf mich warten. Die Sonne bricht durch das Geäst und sprenkelt den Weg vor mir mit zuckenden Lichtern. Der Rosmarin wächst hier in üppigen Büschen. Der Oleander leuchtet im Staub. Ab und an blitzt das Blau des Meeres durchs Grün.
Ich spüre, wie meine Waden krampfen. Mein BH-Träger reibt schmerzhaft über einen Mückenstich. Es war Jasnas Idee, diesen Urlaub zu machen. Dabei haben wir eigentlich genug zu tun. Die Wohnung muss ausgeräumt werden und das kann dauern. Der Vater war ein Sammler. Er hat alles Mögliche konservieren wollen: Korken, Zuckertütchen aus Cafés, in denen er mit Mutter war, alle Ausgaben der Zeit. Doch Jasna hat darauf bestanden: „Jetzt, wo wir nur noch zu zweit sind. Da wäre das doch gut für uns, meinst du nicht?“, hat sie gesagt. Ich höre noch ihre aufgesetzte Fröhlichkeit durch den Telefonhörer. Das ist ihre Stimme, wenn sie sich selbst überzeugen will, wenn sie mir und sich sagen will, dass alles in Ordnung ist. Und dann ist es meine Aufgabe schnell einzustimmen, um das zu bestätigen. „Okay“, habe ich gesagt und meine Stimme nahm den Klang ihrer an und wir sagten beide „Schön.“, und legten auf.
Der Weg wird immer steiler. Die Sonne steht höher am Himmel und brennt mir im Nacken und auf der Kopfhaut. Ich hätte einen Hut mitnehmen sollen. „Willst du meinen?“, hat Jasna im Hotel gefragt, bevor wir losliefen. Ich musste nicht antworten. Die Schwester wusste auch so, dass ich ablehnen würde. Jasna wirft mir einen Blick zu. „Ganz schön anstrengend, was?“ Sie blickt mich dabei fröhlich an und sieht überhaupt nicht angestrengt aus. Mein T-Shirt klebt an meinem unteren Rücken. Ansonsten ist alles trocken: Der Staub unter meinen Fußsohlen, das Geäst, wie es knackt, wenn ich es zur Seite schiebe, meine Kehle, denn ich habe natürlich zu wenig Wasser eingepackt.
„Hier ist es.“ Meine Schwester steht auf einem Plateau und deutet mit dem Finger auf den Abgrund. „Schön, nicht wahr?“ Die Felsen schneiden scharf in den blauen Himmel, der über dem Azur des Wassers verblasst. Gewaltige Wassermassen schlagen gegen die Steilküste, doch hier oben ist nichts davon zu hören. Der Wind legt sich über meine Ohren, verschließt sie vor jedem Geräusch. Mit der nächsten Böe verliere ich kurz das Gleichgewicht. Die Angst vor dem freien Fall ist ein kraftvolles Lehnen gegen den Wind, verzögert um eine halbe Sekunde, die mich vor mir selbst erschrecken lässt.
Jasna steht direkt neben der Abbruchkante. Der Wind wirbelt ihre Haare durcheinander, so dass ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen kann, wie damals, kurz bevor wir ins Meer sprangen. Ich erinnere mich an den Sog, der an meinen Beinen, an meinem ganzen Kinderkörper riss, spüre noch die Strömung, die mich herumwirbelte, als wäre ich kein Kind, sondern bereits Schaum geworden. Ich erinnere mich an die Angst, die sich in mir breitmachte, mir den Atem nahm, ebenso wie das Wasser. Ich sah die Schwester, die das Wettschwimmen gewonnen hatte, natürlich hatte sie das, und die jetzt zum Strand schwamm. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist das Gesicht des Vaters, in das ich Wasser spuckte.
Jasna blickt mich jetzt erschrocken an. „Vorsicht!“, ruft sie. Dann zieht sie mich zu sich. „Du musst aufpassen!“ Ich schüttele den Kopf. „Ist doch alles gut“, doch mein Herz klopft in der Kehle, so dass sich die Worte ganz dünn machen müssen, um am Herzen vorbeizukommen. „Nichts passiert.“
Jasna holt tief Luft. „Weißt du, ich habe keine Lust, dass du auch…“
„Was?“
„Wir sind nur noch zu zweit.“
„Und was ändert das?“, will ich sagen, aber ich zucke nur mit den Schultern und laufe an der Schwester vorbei. Auf dem Geröll rutsche ich ein paarmal weg, verlangsame meine Schritte aber nicht. Am Ende des Weges bleibe ich stehen. Ich setze mich auf einen Stein und blicke auf den Hafen. Die Schiffe liegen sanft schaukelnd nebeneinander. Der Wind hat sich beruhigt. Das Wasser liegt wie ein ausgebreitetes blaues Tuch vor mir, nur dann in Falten geworfen, wenn jemand mit seiner teuren Yacht in den Hafen steuert.
Ein Schatten läuft über den Weg und bleibt vor mir stehen. „Deutscher“, sagt Jasna.
Ich betrachte den Mann, der seine Jolle in den Hafen fährt. „Vielleicht“ sage ich.
„Kommst du mit schwimmen?“
Ich schüttele den Kopf und stehe auf. Dann gehe ich zum Hotel und packe meine Sachen.
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Jeden Tag kannst du ein neues Türchen öffnen: