Glitzer im Gesicht

Schillern ist ein schwaches Verb, sagst du. Und ich nicke, obwohl wir beide etwas vollkommen anderes meinen.
Das ist eine Geschichte, die Sie so oder so ähnlich schon tausendmal gehört haben. Aber man glaubt ja immer, man selbst sei etwas Besonderes, oder?

Also: ICH
Ich bin in einer Stadt, die sehr nah an der Stadt ist, die einmal meine war. Ich bin in einer Stadt, die oft als pittoresk oder malerisch, manchmal auch nur als charmant beschrieben wird. Ich lasse mich davon nicht beirren. Denn: Es ist eine Stadt wie für mich gemacht. Eine mit der genau richtigen Anzahl an Menschen, zu viele, um ganz zu verschwinden, zu wenige, um nie wieder aufzutauchen. Eine mit ausreichend Gassen, um sich zu verlaufen und einer Sprache, die ich nicht spreche. Ich bin seit elf Tagen in dieser Stadt und war noch nicht beim Amt. Habe bisher keinen Supermarkt von innen gesehen, die Wohnung nicht eingerichtet, mit niemandem so etwas wie ein Gespräch geführt. Aber ich habe ein Café gefunden, eines mit durchgesessenen Polstermöbeln und Plastikblumen am Tisch, wo es immer irgendwie nach Rauch und Frittierfett riecht, obwohl keine Speisen serviert werden. In diesem Café trinkt nie, wirklich nie jemand Kaffee, sondern nur Bier und Wein und wenn gar nichts mehr geht, dann einen Kurzen.
Und so sitze ich jeden Abend in dem Café, das eigentlich eine Bar ist, und trinke ein Glas Wein, rauche, schreibe und frage mich: Bin ich jetzt offiziell Autorin oder nur ein Klischee?

Und DU…
Du sagst: Du hasst Menschen, aber liebst deine Freund:innen.
Du isst seit fünf Jahren kein Fleisch, aber Leberkässemmel einmal im Monat muss einfach sein.
Du findest Montage schmecken salzig und Donnerstage sind blau.
Du kannst das Meer nicht riechen und schwitzt nur an der Nase.
Du rechnest mit deinen Fingern und kannst bis heute kein Rad schlagen. Und es ist dir egal.
Du bist lieber laut als leise. Zu spät als zu früh. Zu viel als zu wenig. Mehr Bauch- als Kopfmensch.
Du liest Romane nie, wirklich nie zu Ende, aus Prinzip, sagst du und funkelst mit deinen grünen Augen, die manchmal blau, manchmal grau sind.
Manchmal glaube ich, alles über dich zu wissen. Jeden Schritt und jeden Atemzug vorhersehen zu können.
Aber wo du jetzt gerade bist, was du tust, denkst oder fühlst, das weiß ich nicht.

Also: ICH
Liege da, Arme und Beine von mir gestreckt, liege da und starre an die Zimmerdecke, liege da und schwitze in mein Leintuch, liegt einfach da, in diesem, meinem Zimmer, das sich fremd anfühlt, in dieser, meiner Wohnung, die noch kein Zuhause, in der Gerüche noch nicht vertraut, Geschichten noch nicht Einzug gehalten haben.
Mein Blick wandert durch den Raum und bleibt an meinem Leben hängen, das in 6 Umzugskisten, 2 Koffer und 4 Ikea-Tüten passt. Vor zwei Wochen und drei Tagen in der hintersten Ecke des Zimmers abgestellt, seit zwei Wochen und drei Tagen nicht mehr angerührt.
Schreibtisch, Klappstuhl, Schrank, Bücherregal, das ohne Bücher eigentlich streng genommen nur ein Regal ist. Alles an seinem Platz, alles so wie es die Mieterin vor mir verlassen hat. Nur die feine Staubschicht, die ist neu.
Als ich meiner Mutter vor drei Tagen am Telefon von dem Umzug erzählte, nannte sie ihn ein „mutiges Projekt“. Ich wollte sie korrigieren. Wollte einwerfen, dass es sich hierbei um nichts Geringeres als um mein Leben handelt. Aber ich schwieg. Für meine Mutter ist seit der Scheidung alles ein Projekt: Töpferkurs, Darmreinigung, Mutterschaft. Mein Vater war nicht zu erreichen. Also schrieb ich ihm eine SMS, schrieb, dass ich raus musste, aus der Wohnung, der Stadt, sogar aus dem Land. Er antwortete per Mail. Schrieb, ihm tue das alles schrecklich leid für mich, aber, und das müsse er jetzt auch mal sagen als mein Vater, er müsse sagen, dass ihn das alles nicht wundere, eine Expertin für das Leben sei ich schließlich noch nie gewesen.

Und DU…
Wenn du lachst, bebt der ganze Körper. Die Mundwinkel ziehen nach oben, die Nasenlöcher weiten sich, die Augen werden zu schmalen Schlitzen. Wenn du lachst und prustend deinen Kopf nach hinten wirfst, wenn du lachst und mit den Händen auf deine Schenkel klopfst, drehe ich mich beschämt zur Seite.
Wenn du einen Raum betrittst, nimmst du ihn ein. Du machst das nicht absichtlich. Aber du machst es und bist in Sekundenschnelle mit allem eins. Mit jedem Menschen, jeder Zimmerpflanze, jedem Molekül. Wenn du einen Raum betrittst und in deinem Element bist, alles und jeden in dich aufsaugst, raubst du mir die Luft zum Atmen.

Also: ICH
Ich sitze in dem Café, das eigentlich eine Bar ist, und scrolle mich stundenlang durch alte Fotos am Handy. Ich sehe diese Frau, Anfang/Mitte Dreißig.
Die Frau isst Döner, vegetarisch, aber mit Zwiebeln, viel Zwiebeln
und trinkt Cola, nicht light, sondern normal.
Die Frau reist allein durch Vietnam und streichelt Esel in Marokko
Sie gewinnt im Backgammon
und zockt im Casino
Die Frau knutscht Fremde
und tanzt barfuß in Clubs
Sie trägt Glitzer, oft und viel Glitzer im Gesicht.
Und ich erkenne die Ähnlichkeit, ich kenne die Frau, aber ich weiß, ich kann das nicht sein. Ich kann das nicht sein, weil ich weiß, was ein Foto nicht ist:
ein Abbild,
ein Ausschnitt,
ein Dokument der Wirklichkeit.

Ich sitze in dem Café, das eigentlich eine Bar ist und schreibe in mein Notizheft. Ich schreibe: Was es bedeutet zu gehen, Doppelpunkt. Ich schreibe:
Du wirst nicht essen.
Du wirst nicht schlafen.
Du wirst nachts Geister jagen.
Du wirst nicht eine, sondern 20 Hände brauchen, die dich halten und die ersten Meter tragen.
Du wirst in dich zusammenfallen und immer weniger und weniger, aber alle werden sagen: Gut sieht sie aus.
Du wirst nicht alles, aber das meiste in Frage stellen.
Aber am Ende wird es besser sein.

Weil ich nicht Schritt halten kann
und du eine 5er Pace hast.
Weil ich neben dir immer ein bisschen weniger Feministin bin
und du immer nur du.
Weil ich irgendwann mehr sein möchte als nur eine Aneinanderreihung von Möglichkeiten
und du doch nur in deiner Inkonsequenz konsequent bleibst.

Und dann erinnere ich mich wieder, an den Moment:
Drei Tage bevor ich die Wohnung, die Stadt, ja sogar das Land verlassen musste.
Wir stehen im Badezimmer. Es ist schon hell, wir waren noch nicht im Bett, wir haben wie so oft die Tanzfläche zu spät verlassen.
Schillern ist ein schwaches Verb, sage ich und nicke. Schaue in den Spiegel. Sehe meine grünen Augen, die manchmal blau, manchmal grau sind. Sehe die kleinen Schweißperlen auf der Nase. Sehe zu viel Farbe, zu viel Glitzer, zu viel von dir. Nur mich – mich sehe ich nicht.
Das ist eine Geschichte, die Sie so oder so ähnlich schon tausendmal gehört haben. Das ist eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich oder ganz anders zugetragen hat. Und ich denke mir, ich will das niederschreiben. Will mich aufs Papier bringen. Neu verfassen. Aber ich finde den Ausdruck nicht. Alles schon gesagt.
Und trotzdem weiß ich irgendwie: Ich bin noch nicht auserzählt.

 

Kerstin Hatzi

 

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