Bloß ein Hund
„Er war doch bloß ein Hund.“ Ich ärgere mich noch immer darüber, wie sie das gesagt hat, als sie gestern, mir gegenüber, an meinem Küchentisch saß. Ich habe mich auch dann schon geärgert, bloß gesagt habe ich nichts. Wir hatten ja bereits eine ganze Weile dort gesessen, mindestens eine halbe Stunde lang Smalltalk geführt, die meiste Zeit habe ich stur an ihr vorbeigestarrt und nur aus den Augenwinkeln heraus beobachtet, wie sie unbeholfen an ihren blassen, schwammigen Fingern herumrieb. Sie wusste ja auch nicht, was sie sagen sollte, war ja selbst ganz überrascht gewesen, als ich sie eingeladen hatte, mir von der Straße in meine Küche zu folgen. Und das war immerhin mein Fehler gewesen. Ich hätte sie stehen lassen sollen, mit ihrem mitleidigen Blick hinter ihrem Vorgartenzaun, und ihr Angebot, mir einen Kaffee zu kochen, wie sonst auch mit dem Kopf wegschütteln sollen. Dann wäre sie nämlich draußen geblieben, hätte weiter den Kies in ihrer Einfahrt mit dem Rechen hin und her geschoben und wäre irgendwann zurück in ihre eigene Küche geschlichen, in der es nach Maggi und kalter Zigarettenstummel riecht. In Hellas Küche könnten mich keine zehn Pferde schleppen, von dem Geruch wird einem schon übel, bevor man überhaupt einen Schluck von ihrem wässrigen Nescafé genommen hat. Aber an diesem Nachmittag habe ich ihren Blick eine Sekunde zu lang erwidert und in dieser Sekunde in ihren Augen etwas gesehen, von dem ich dachte, ich hätte es mir wenigstens für eine halbe Stunde und zwei Tassen Kaffee verdient. Ihr Mitleid. Ich trage ja selbst welches mit mir herum, für mich, seitdem du weg bist. Vielleicht habe ich Angst, meines wird verblassen, wenn kein neues dazu kommt. Und was wäre dann noch übrig, von deinem Weggehen.
Natürlich bist du ein Hund, warst du ein Hund, das muss mir ja keiner sagen. Du konntest nicht sprechen, hast gebissen, anstatt zu bellen – Hunde entscheiden sich bekannterweise immer nur für eine der beiden Optionen – hattest treue, liebe Augen, ein dichtes, braunes Lockenfell und ich habe mich immer gefragt, was du eigentlich mitbekommst, von mir, von dem, was um dich herum passiert. Habe nie gewusst, ob du mich vergötterst oder einfach nur Hunger hast. Habe dich mit Menschenliebe geliebt und mich nach deiner Hundeliebe gesehnt und bin in meiner Trauer über dein Weggehen allein, denn: Du warst ja eben bloß ein Hund. Ich weiß nicht, was mich an diesem Satz so wütend gemacht hat. War es das „bloß“, als hätte es nicht gereicht, mich auf dein Hund-Sein hinzuweisen? War es, wie Hella es gesagt hat, mit absinkender Stimme und schiefgelegtem Kopf, mit ihren großen Augen, mit dem Vorwurf, der da mitklang, der auch mitklang, als sie mir heute morgen ganz nebenbei über den Gartenzaun zurief: „Nach sechs Monaten hat sich meine Schwester einen Dackel zugelegt.“ – „Was interessiert mich denn bitte der beschissene Hund deiner Schwester, Hella?“, sagte ich leise zu mir, aber nicht laut zu ihr, und zupfte weiter den Löwenzahn aus dem Geranienbeet. Oder hat es mich geärgert, dass sie mir in meiner eigenen Küche, in die ich sie in fünf Jahren nicht einmal eingeladen hatte, sagt, was ich selbst am besten weiß? Was mir einen Schlag verpasst, wann immer ich mich in meinen sinnlosen, schmerzenden Tagträumen erwische? Was immer es auch gewesen sein mag, Hella sitzt jetzt wieder in ihrer Küche und ich in meiner, jede mit ihrem eigenen Kaffee, jede mit ihren eigenen Gedanken, die sie für sich behalten kann, die sie von mir aus in den dunstigen Gestank ihrer weißgefliesten Wohnung schicken kann, wo sie dann ersticken, weil ihr Rheuma ihr das Lüften verbietet.
Am schlimmsten sind die Sonntage. Besonders in den letzten Wochen, die das Laub gelb und die Luft grau gefärbt haben. Weil du und ich jeden Sonntag mit dem Auto aus der Stadt rausfuhren, raus aufs Land, zu den Wiesen, den Wäldern, zum Wasser. Wir gingen stundenlang um Seen herum, spielten ab und zu mit Stöcken, keiner sagte ein Wort. Weil du diese Tage genauso sehr gebraucht hast wie ich. Das wusste ich, weil ich sehen konnte, wie du aufatmetest, wie du nicht zusammenzucken musstest, weil es keine Menschen gab um uns herum, keine lauten Geräusche, nur mich. Und ich schwieg und freute mich darüber, dir zuzusehen. Weil Sonntag unser Tag war. Vielleicht ist es also doch die Gewohnheit, wie diejenigen sagen, die sich verkneifen, mich auf dein Hund-Sein hinzuweisen. Ein egoistischer Schmerz also, einer der fragt, „was machst du jetzt mit deinem Sonntag, wenn du nicht neben ihm im Auto sitzt und ihm erzählst, was du dir zu Abend kochen wirst, ihn bei jeder roten Ampel ansiehst, als würde er doch irgendwann antworten?“ Gewohnheit eben.
Ich habe irgendwo gelesen, dass sich manche Menschen vor den Spiegel stellen, um zu weinen. Weil sie sich so in ihrer Trauer gesehen fühlen. Vielleicht sollte ich das mal ausprobieren, anstatt meine Zeit damit zu verschwenden, die Geranien von Unkraut zu befreien, die verfaulten Äpfel vom Rasen zu sammeln oder die Gräser, die über die Steine des Gartenpfades wuchern, mit der Nagelschere zurechtzustutzen – so weit ist es schon gekommen – nur, um dabei Hellas mitleidigen Blick auf mir ruhen zu spüren. Dabei gefällt mir nicht einmal wirklich, wie sich mich ansieht. Sie denkt ja, ich würde das nicht bemerken, wie sie da an in ihrer Terrassentür lehnt, ihre abgebrannte Marlboro red zwischen den Fingern, mich mustert und sich jedes Mal viel zu hastig irgendeiner ebenso sinnlosen Beschäftigung zuwendet, wenn mein Blick von den Pflastersteinen in ihre Richtung wandert. Ihre Hilflosigkeit ekelt mich. Und trotzdem bin ich wieder hier, mit den Knien im Dreck und den Händen in meinen versifften, grünen Gartenhandschuhen und ekle mich mindestens genauso sehr vor mir selbst, weil ich ganz genau weiß, worauf ich warte. Hellas Terassentür bleibt zu.
Geht es darum, dass ihre Augen auch auf dich fielen? Als du noch hier warst, versteht sich. Dass sie uns zusammen gesehen haben? Wie wir im Sonnenlicht gemeinsam auf dem Rasen lagen, wie ich dich bei den Locken packte, wenn du wieder einmal knurrend nach den Bienen schnapptest. Ihre Augen haben dich gesehen, vier Jahre lang. Und wie das so ist mit der Gewohnheit, ergänzt sie jetzt das Bild, das sich Hella beim über-den-Gartenzaun-Spähen bietet, mit Details, die in Wahrheit längst verschwunden sind. Mit dir. Hellas Augen sind der Projektor und meine Einsamkeit die Leinwand, überspitzt gesagt, aber wenn ich sie beim Spähen erwische, denke ich an dich. Denn du warst ja immer Teil des Bildes, bis du wegliefst. Hella entging nichts davon. Also entging es ihr auch nicht, wie du mir zum ersten Mal so garstig in die Hand gebissen hast, dass mir schwarz vor Augen wurde. Genauer gesagt entging ihr das schon, denn das war ja in der Küche passiert, nicht im Garten, aber sie hat eben ihre Intuition, wie sie immer sagt. Und als ich dann, ein paar Tage später, am Gartentisch saß und meinen Kaffee trank, rief sie mir zu: „Der ist gemeingefährlich.“ – „Wer?“ Ihr Finger folgte ihrem Blick und beide deuteten in deine Richtung. Wie du da saßt, vorm Wintergarten, und teilnahmslos vor dich hin blinzeltest. „Was soll das denn heißen?“, fragte ich, sie lächelte nur sanft und nickte mir zu. „Das?“, ich hielt meine bandagierte Hand in die Luft und lachte. „Das? Ohne dein Bofrost-Abo wüsstest du auch, wie es aussieht, wenn man sich beim Kochen verletzt, kümmer du dich mal lieber um deinen eigenen Scheiß.“ Das hatte mir damals direkt leidgetan, sie war, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus gegangen und erst am Donnerstag wieder rausgekommen, um mit ihrer Nichte im Garten zu sitzen. Mich hat sie dabei nicht angesehen, das kam erst wieder, als ich ihr einen Korb Äpfel vors Garagentor gestellt habe.
Aber ich habe für dich gelogen, konsequent, auch, als sie mich noch einmal nach meiner Hand fragte, als ich vom Einkaufen zurückkam und die Mineralwasserkästen nur mit Mühe ins Haus schleppen konnte. Und auch beim Arzt habe ich gelogen, habe gesagt, ich wäre joggen gewesen und ein fremder Labrador hätte nach mir geschnappt, ein dunkelbrauner, man lügt ja bekanntlich besser, wenn man dabei ein konkretes Bild vor Augen hat. Der, der mich gebissen hat, warst nicht du, das war ein brauner Labrador und ich hatte danach zwei Wochen lang ein schlechtes Gewissen, weil ich mich sorgte, dass man jetzt nach braunen Labradoren Ausschau hielt, um sie einzuschläfern. Natürlich war das Unsinn, aber das waren eben die Gedanken, die mir kamen, in den paar Sekunden vorm Einschlafen, die sich in ihrer fantastischen Dringlichkeit in die Unendlichkeit zogen, während du friedlich neben mir schliefst, mit deinem schweren Lockenkopf auf meinem Oberschenkel. Was sollte das alles auch, wen ginge das denn überhaupt etwas an. Ja, du hast mich gebissen, aber du hast das ja nicht dauernd gemacht. Und außerdem weiß ich ganz genau, warum das passiert ist, weiß ja ganz genau, wie sie dich gebissen haben, als du noch ein Welpe warst. Ich konnte die Narben sogar noch sehen, eine am Bauch, neben deinem rechten Vorderbein, und eine am Ohr. Das war nicht mal mehr eine Narbe, das war ein Riss, der nie mehr ganz verheilt war. „Na, und warum holt man sich denn genau so einen Geschundenen wie den ins Haus?“ Weil man ihn liebt. Und weil man von ihm geliebt wird. Und weil ich nicht zu den Menschen gehöre, die zwischen denen unterscheiden, die einfach zu lieben sind, und denen, die man ins Tierheim schickt. Ganz einfach, Hella.
Neben den Sonntagen schmerzt die Dämmerung. Das war die Zeit, in der du müde wurdest. In der du zu mir kamst. Es war nicht leicht, dich zu fassen zu bekommen, meistens wichst du aus, wenn ich meine Hand nach dir ausstreckte. Besonders morgens. Sobald du wach warst, sprangst du vom Bett, liefst die Treppe hinunter und standest vor der Gartentür, bis ich, verschlafen und voller Sehnsucht nach Berührung, hinterherkam und sie dir öffnete. Dann bliebst du draußen, den ganzen Tag, während ich arbeitete, das Haus putzte, Zeitung las und dich ansah. Doch abends, wenn der Himmel rauchblau und schließlich dunkel wurde, kamst du wieder, hungrig, und nachdem du gegessen hattest, zu mir. Irgendwann war es mir, als bestünden meine Tage nur noch aus der Vorfreude auf diese wenigen Stunden, mit dir auf dem Sofa, meine Hand in deinem Fell, deine Zunge, wie sie mir über das Handgelenk fuhr, wir beide und der Einbruch der Nacht. Vielleicht bist du ja deshalb im Winter zu mir gekommen und im Frühling davongelaufen, weil du ganz genau wusstest, dass du die Dämmerung auch nicht aushalten würdest, wenn sie kam. Doch jetzt kommt sie wieder, zu früh, so früh, dass man sie stundenlang ertragen muss, bis man sich endlich schlafen legt. Zumindest geht es mir so. Du warst ja bloß ein Hund.
Gerade als ich merke, dass mir die feuchte Erde, in der ich knie, bereits durch den dicken Stoff meiner Jeans gekrochen ist, um meine Beine mit ihrer klammen Nässe zu überziehen, höre ich, wie Hellas Terassentür aufgeht. Ich blicke auf und da steht sie, im Abendsonnenlicht, eine dampfende Tasse Tee in der Hand, in ihrer Arbeitsuniform. Hella arbeitet als Verkehrsüberwacherin, Politesse nennt man das auch, jedenfalls die Frauen, die einem Strafzettel unter die Scheibenwischer klemmen, wenn man fünf Minuten zu lange beim Arzt, oder beim Amt oder sonst wo wartet. Kein sehr sympathischer Job, das steht fest, aber ganz sicher bin ich mir dabei auch nicht. Ich habe sie ja nie gefragt. „Na?“, ruft sie mir zu. „Na?“, frage ich zurück und halte mir dabei die behandschuhte Hand über die Augen, um sie vor der niedrigstehenden Sonne zu schützen. Erde bröckelt mir ins Gesicht. „Immer was zu tun bei dir, was?“, fragt Hella und schlendert durch den Garten auf unseren gemeinsamen Zaun zu. „Naja, man findet immer was zu tun. Du kennst das ja“, murmel ich zurück und richte mich auf. Wir stehen uns gegenüber, ich noch halb im Beet, einen Kopf größer als sie und werde mit einem Mal verlegen. Als wäre sie deshalb so ungewohnt selbstbewusst über den Rasen auf mich zu gelaufen, weil sie ahnt, dass ich hier nur deshalb im Dreck vor mich hin krieche, weil ich auf sie gewartet habe. Auf ihr warmes Mitgefühl. Aber wie soll sie das denn wissen. „Du wirst mir das jetzt nicht glauben, aber ich hab einen Hunderter im Lotto gewonnen.“ Hella strahlt. Daher weht der Wind also. „Na dann komm rein, wir feiern das, was denkst du?“ Ich ziehe mir die Handschuhe von den klammen Händen und klopfe sie an der Hose sauber.
„Warum sind wir eigentlich nie Freundinnen geworden?“ Fragt sie mich. Es ist spät, zu spät, bestimmt nach eins und ich spüre den Prosecco sauer in meinem Magen prickeln. „Ich weiß es nicht, Hella“, sage ich und pule mir dabei den Dreck unter den Fingernägeln hervor. Natürlich weiß ich es. Warum sollten wir, was haben wir beide denn gemeinsam? Weil du erst im Lotto gewinnen musst, um mal über etwas anderes zu sprechen als die Nachbarn, deren Kinder, deren Autos, deine Schwester oder den Gartenzaun, den wir uns teilen und den du seit letztem September schon weiß streichen willst, aber es nie gemacht hast. Aber heute hast du im Lotto gewonnen, Hella, und wir haben uns zum ersten Mal wirklich unterhalten. Ja, du bist Verkehrshelferin, du warst erst Polizistin, aber hast aus ethischen Gründen gekündigt. Du hast einen Sohn, der in Düsseldorf wohnt und hast seit zwei Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Du hattest mal ein Wasserflugzeug, von deinem Vater geerbt, konntest es auch fliegen, hast dir dann aber das Bein gebrochen und es so lange stehen gelassen, bis du vergessen hast, wie es geht. Irgendwann hast du auch Angst bekommen, vorm Fliegen, du warst ja schließlich Mutter und hattest Verantwortung. Und du bist lustig, Hella, wenn man dich mal reden lässt, dann fallen dir alle möglichen Anekdoten ein, wie du dem Rektor als Schulmädchen die Schnürsenkel zusammengebunden hast, als er auf seinem Stuhl schlief, oder wie sich deine Mutter, als sie schon fast blind war, bei einem gemeinsamen Spaziergang von deinem Arm losgemacht hat, um einen Mann, der gerade mit entblößtem Schwanz ins Gebüsch pinkelte, nach den Öffnungszeiten des Parkcafés zu fragen. Natürlich lag es eher an deinem Gesicht, an deiner Gestik, dass mich diese Geschichten amüsiert haben, als daran, wovon sie erzählen. Jetzt sprichst du wieder vom Nachbarn. Aber nicht wirklich von ihm, sondern von dem Fahnenmast in seinem Garten. „Irgendwas macht mich unendlich traurig, wenn ich das höre. Wie das Metall ans Aluminium pocht. Das ist so ein hohler, einsamer Klang. Aber ich kann da ja auch schlecht rübergehen und ihn bitten, seinen Fahnenmast abzubauen.“
Hella hebt die Augen, lächelt, vermutlich über sich selbst. Ihre Stimme hallt nach, in meiner Küche und in meinen Ohren. Und irgendetwas an dieser Stimme sticht mir ins Herz, ganz tief. Ich nehme Hellas Hand in meine. Ihre Haut fühlt sich ganz anders an, als sie aussieht. Sanfter, fester und warm. Hella sieht mich an, überrascht und ihre Hand zuckt leicht, als ich mich langsam zu ihr beuge. Ich rieche an ihrer Wange und küsse sie, erst dort, dann auf den Flaum unter ihrer bebenden Nase, dann auf die Lippen, die so gar nicht nach Maggi schmecken. „Ich könnte deine Mutter sein“, flüstert sie. Ich nehme Hella den Schal vom Hals und lächle nun auch, zum ersten Mal in dieser Woche, so breit, dass ich ihr dabei meine großen, weißen Zähne zeige.
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